ZUM UMGANG MIT NEUEN GRENZEN


 

Bei und nach schweren Erkrankungen können zuvor als selbstverständlich hingenommene Fähigkeiten in vielen Lebensbereichen eingeschränkt oder ganz verloren sein. Man muss herausfinden, was noch – oder bei längeren Genesungsprozessen: was wieder – möglich ist und welche Hilfe man dafür benötigt. Es bedarf einer genauen Abstimmung zwischen Wollen und Können, die man ebenfalls erst einmal lernen muss. Denn der Wunsch, sich endlich wieder mehr ins lebendige Leben zu stürzen, kann dazu verleiten, die eigenen Fähigkeiten unrealistisch einzuschätzen. Es ist ein langwieriger und oft schmerzhafter Lernprozess, in dem man anfangs immer wieder scheitert, weil das Können dem Wollen noch nicht gewachsen ist. Doch Scheitern hilft, einen realistischeren Blick auf sich selbst und die eigenen Möglichkeiten zu bekommen. Auch wenn es schmerzt. Und Scheitern bedeutet nicht, dass etwas unmöglich ist, sondern nur, dass es zum jetzigen Zeitpunkt auf dem vorgestellten (und ausprobierten) Weg nicht möglich ist. Aber vielleicht auf einem anderen.

Mit der Erfahrung des Scheiterns durch krankheitsbedingte Einschränkungen umzugehen kann auf vielfältige Weise geschehen. Jemand, der versucht, in seiner Entwicklung den Grenzen mindestens nahe zu kommen, wird durch wiederholtes Scheitern mit Insuffizienzgefühlen konfrontiert, muss diese aushalten und darf an ihnen nicht verzweifeln. Demgegenüber wird ein anderer, der sich nur sehr vorsichtig bewegt, das Gefühl bekommen, dass es ihm wieder recht gut geht. Doch das kann trügerisch sein, weil sich das gute Befinden lediglich im geschützten Rahmen der eigenen, womöglich unnötig eng gesetzten Grenzen einstellt.

Wagt man sich dagegen wieder mehr ins Leben, ist man wie erwähnt vor die Aufgabe der Feinabstimmung zwischen Fähigkeiten, Einschränkungen und Belastungen gestellt. Dabei geht es vor allem um folgende Fragen: Was kann ich heute schon selbst tun? Wo brauche ich Hilfe? Wer kann mich in welcher Weise unterstützen? Wie kann ich etwas, an dessen Grenze ich bislang gescheitert bin, auf einem anderen Weg zustande bringen? Nicht zuletzt geht es um eine ehrliche Selbstbefragung, ob die “Schrittgröße”, mit der man versucht, die eigenen Grenzen auszudehnen, auch den Fähigkeiten entspricht. Ist der “nächste Schritt” zu weit gesetzt, scheitert man womöglich an Situationen, die man bei kleinerer Schrittlänge durchaus hätte bewältigen können.

 Die eigenen Grenzen zu verändern und vielleicht auszudehnen führt zur Konfrontation mit ihnen. Wie kann es gelingen, eine Art Pufferzone zu wahrzunehmen, deren Wirksamwerden auf die nahende Grenze aufmerksam macht?

  • Gibt es Warnsignale wie Schmerzen, Unwohlsein oder ähnliches, die mich auf die nahende Grenze hinweisen?
  • Treten Schlafstörungen auf, die vielleicht auf ein Zuviel im Alltag hinweisen?
  • Wie verhalte ich mich, wenn die Warnzeichen auftauchen? Ignoriere ich sie? Nehme ich sie ernst?
  • Was würde mir helfen, wenn die Warnzeichen auftauchen?
  • Was kann ich selbst dafür tun, mir möglichst gute Bedingungen zu schaffen, um meine wieder erlangten Fähigkeiten so gut wie möglich ins Leben holen zu können?

 

Wieder Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten fassen

„Wenn man für Wochen, Monate oder gar Jahre beständig mit Nicht-Können konfrontiert war, können Trauer, Frustration und Verunsicherung den Blick für die gebliebenen oder neu entstandenen Fähigkeiten verstellen. Krankheitsbedingten Erfordernissen und Begrenzungen gerecht zu werden, sie auszuhalten und kompensieren zu lernen mag wegen des Ungleichgewichts zwischen aktuellem Nicht-Können und Können den Blick auf das wieder oder neu Gelingende schwierig machen oder gar verhindern. Oft sind Fähigkeiten langsam gewachsen oder wurden von der Massivität der Einschränkungen verdeckt. Der eigene Blick für sie mag anfangs noch ungeübt und misstrauisch, das Vertrauen in sie brüchig sein. (…) Es fiel mir lange Zeit schwer, das trotz der Einschränkungen Gesundein mir wahrzunehmen. Dieses Gesunde in mir zeigte sich zum Beispiel in der Haltung, trotz zahlreicher unangenehmer Situationen, frustrierender Erfahrungen und beschämender Momente nicht aufzugeben. Dennoch war mir nicht bewusst, dass sich in dieser Haltung Fähigkeitenzeigten. Wenn mir Freunde sagten, sie würden bewundern, wie konsequent und tapfer ich meinen Weg ginge, fiel es mir schwer, mich mit ihren Augen zu sehen. Durchhaltekraft, eine gewisse Frustrationstoleranz und Ausdauer waren mir zu vertraut, um sie als Fähigkeiten wahrzunehmen und schätzen zu können. Außerdem war ich misstrauisch: Meinten sie das ernst? Oder wollten sie mich nur aufmuntern? Ich war so sehr verunsichert, dass ich nicht glauben konnte, überhaupt etwas wieder oder noch gut zu können. Außerdem hatte ich Sorge, meine Freunde würden Fähigkeiten in mich “hineinsehen”, die genauerer Prüfung nicht standhalten könnten. Und so kostete es mich große Überwindung, wenigstens zu versuchen, mich wieder mit anderen Augen zu sehen. Nur langsam wuchsen mein Vertrauen, dass auch etwas Gelingendes in meinem Leben da wäre, und die Bereitschaft, nach diesem Ausschau zu halten.“ (Auszug aus Petrow& Passie „Wenn Krankheit das Leben verändert“, Psychosozial-Verlag)

Um das Gelingende in meinem Leben (wieder) stärker wahrzunehmen, hat es mir geholfen, eine Zeit lang jeden Abend drei bis fünf Dinge aufzuschreiben, die ich an dem Tag gut gemacht habe. Das konnten Situationen sein, in denen ich im öffentlichen Raum bewusst für mich gesorgt hatte, wie zum Beispiel im Bus jemanden zu bitten, mir den Sitzplatz für gesundheitlich eingeschränkte Menschen freizugeben (was mir jedes Mal neu schwerfiel). Oder auch ein besonders gut gelungenes Abendessen oder dass ich es geschafft hatte, mir an diesem Tag ohne anhaltendes Hadern Ruhe und Schonung oder auch jene Tatsache zuzugestehen, dass mir etwas nicht gelungen ist.

 

Noch eine Bitte an begleitende Menschen

„Abschließend noch ein letzter Aspekt: Wenn ich in der Begleitung eines Betroffenen spüre, dass er sehr unter dem Verlust seiner bisherigen Fähigkeiten oder auch Berufstätigkeit leidet, kann ich mit ihm gemeinsam überlegen, welche anderen Möglichkeiten es gäbe. Es scheint fast zu selbstverständlich als dass es erwähnenswert wäre, dass ich bei diesen Überlegungen und meinen aus ihnen resultierenden Vorschlägen demjenigen gerecht werden muss. Das heißt, dass ich mir Gedanken darüber mache, ob meine Vorschläge ihm überhaupt entsprechen könnten. Dies ist nicht immer der Fall. Als ich mich damals nutzlos und als Schmarotzer fühlte, weil ich zwar Rente bekomme, aber keine Gegenleistung geben konnte, riet mir ein Freund, ich solle mich doch im Supermarkt um die Ecke bewerben, um dort die Regale aufzufüllen. Dann hätte ich wieder eine Aufgabe und würde auch mal ein Lob dafür bekommen, dass ich die Regale gut aufgefüllt hätte. Das war nett gemeint. Trotzdem wäre es für mich keine Aufgabe gewesen, die mein Selbstwertgefühl in irgendeiner Weise gestärkt hätte. Eine Büchse ordentlich ins Regal zu stellen bedeutete im Verhältnis zu meiner früheren ärztlichen Tätigkeit eine quälend große Diskrepanz. Es wäre für mich zutiefst deprimierend gewesen, für etwas gelobt zu werden, das so stark an meine Defizite geknüpft ist. Für mich wäre es so gewesen, andere hätten vielleicht anders empfunden. Ich bin dem Rat eines anderen Freundes gefolgt, nämlich das Gefühl, vermeintlich nutzlos zu sein, auszuhalten und mich weiter mit dem Umgang mit Krankheit zu befassen, damit ich zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Bereich für andere Menschen nützlich werden könnte. Das würde mir vielleicht Freude machen, wenn ich schon nicht mehr als Ärztin arbeiten könne. Auch wenn ich darauf noch warten müsse. Er verglich es mit einer Saat, die Zeit zum Wachsen und zum Reifen braucht. Das fühlte sich stimmiger an. Abzuwarten, auszuhalten und reifen zu lassen kann manchmal der passendere Weg sein als in Aktionismus auszuweichen. Und selbst wenn es von außen anders anmuten mag: Auszuhalten und reifen zu lassen sind nicht weniger aktives Tun als Regale einzuräumen, denn es sind Lernprozesse in Geduld, Ausdauer und Frustrationstoleranz. Aus ihnen und durch sie wächst der Halt von innen, der wiederum zur Basis oder wenigstens zur Hilfe werden kann, wenn man sich immer weiter ins Heilsein ausdehnt und ins Leben vorwagt.“ (Auszug aus Petrow& Passie „Wenn Krankheit das Leben verändert“, Psychosozial-Verlag)