SCHAMGEFÜHLE


 

Zum besseren Verständnis sei eine Bemerkung zu Scham und Schamgefühlen aus der existenzanalytischen Perspektive vorangestellt: Scham ist zunächst ein Empfinden des Schutzes für sich selbst, für die eigene Würde, die eigenen Grenzen und Intimität. Scham entsteht aus dem Selbstwertgefühl: Ich empfinde meinen eigenen Wert und möchte diesen schützen. Schamgefühle treten auf, wenn die Grenzen meiner Scham verletzt werden, sie sind ein Zeichen eines (drohenden) Selbstwertverlustes bzw. einer Selbstwertverletzung. Ich schäme mich, wenn ich in einer Weise gesehen werde, in der ich nicht gesehen werden möchte. Sei es, weil ich etwas verbergen möchte, mit dem ich selbst noch keinen Umgang gefunden habe, oder weil ich Abwertungen oder gar Spott befürchte oder ihnen ausgesetzt war.

Im Laufe der Auseinandersetzung mit meiner Erkrankung habe ich drei verschiedene Arten des Schamgefühls erlebt, die sich oft überschnitten: Scham vor dem Anderen, durch den Anderen und für den Anderen.

 

1. Scham vor dem anderen

„Wenn man keine auffälligen Einschränkungen hat, wird man auf der Straße nur so beachtet wie jeder andere auch. Durch die Gangstörung verlor ich jedoch meine Privatheit. Ich konnte nicht mehr einfach rausgehen, für mich sein und in der Masse untertauchen. Ich konnte nicht mehr selbst entscheiden, ob ich auffallen wollte oder nicht, sondern wusste mich in einem Maße der Öffentlichkeit ausgesetzt, das im absoluten Gegensatz zu dem stand, wie ich mich den Blicken Anderer ausgesetzt sehen mochte. Ich fühlte mich schutzlos. Viel lieber hätte ich mich in meiner Verletzlichkeit, in meiner Unzulänglichkeit verborgen, ich wollte so nicht gesehen werden. Dennoch musste ich es – oder ich musste zuhause bleiben.“  (Auszug aus Petrow & Passie „Wenn Krankheit das Leben verändert“)

 

2. Scham durch den anderen

„Der Wunsch, mich verbergen zu wollen, wurzelte in meiner Angst, Abwertung, Unverständnis oder Spott zu ernten, wenn ich mich zeigte. Diese Angst war nicht unbegründet. Sie beruhte auf einer Beobachtung, die vermutlich jeder von uns schon gemacht hat: Privat und im öffentlichen Raum wird über kranke oder behinderte Menschen noch viel zu oft gespottet wird oder sie werden direkt beleidigt. Das habe ich auch persönlich erlebt. Als ich einmal etwas einkaufen wollte und zusätzlich zu der Gangstörung auch Mühe hatte, die richtigen Worte zu finden, raunzte mich die Verkäuferin an, ich solle doch bitte erst meinen Rausch ausschlafen, bevor ich einkaufen ginge. Ohnehin schon an den Grenzen meiner Belastbarkeit verließ ich wortlos das Geschäft. Durch ihre Unwissenheit über meine Krankheit hatte die Verkäuferin das sichtbar Andere als etwas ihr Bekanntes interpretiert. Sie brachte mich zusätzlich in die Situation, nicht nur meine Einschränkungen aushalten zu müssen, sondern auch die aus ihnen resultierenden Reaktionen anderer Menschen. Obwohl mein Gangbild dem einer Betrunkenen kaum ähnelte, wurde es so interpretiert. Für mich war die Situation unerträglich. Im Ton der Verkäuferin hatte Verachtung gelegen. Ich fühlte mich beschämt. (…)

Neben direkten Beleidigungen gibt es subtilere, die viele nicht als solche wahrnehmen. Bezeichnungen für Menschen, die mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu kämpfen haben, sind in den Schimpfwortschatz übergegangen. So hat der Satz „du bist blöd“ seine Wurzeln im „Blödesein“, einer veralteten Bezeichnung für geistige Behinderung. Wer im Bekanntenkreis Jugendliche hat, weiß, dass „du bist ja behindert“ oder „du Spast“ gängige Beleidigungen sind. Ebenso ist „das ist ja voll behindert“ eine durchaus übliche Negativbewertung beliebiger Situationen. Doch nicht nur in der Jugendsprache finden sich diskriminierende Formulierungen. Das Wort „Idiotentest“ für die MPU-Untersuchung ist gesellschaftsfähig geworden, es wird sogar in Zeitungsartikeln der Qualitätspresse benutzt.

Zu der durch Sprache transportierten Abwertung tritt jene hinzu, die durch richterliche Urteile und deren mediale Berichterstattung deutlich wird. Wenn Urteile bescheinigen, der Anblick von Rollstuhlfahrern im Speisesaal eines Hotels verursache Ekel und rechtfertige für andere Gäste eine Preisminderung, dann prägt auch das unser Bild von beeinträchtigten Menschen und unseren Umgang mit ihnen.

Angesichts dieses – hier nur skizzierten – gesellschaftlichen Klimas bedarf es eines erheblichen Selbstbewusstseins, um bei neu erworbener Behinderung keine Scham zu empfinden.“ (Auszug aus Petrow & Passie „Wenn Krankheit das Leben verändert“)

 

3. Scham für den anderen

„Einmal fragte mich ein etwa fünfjähriges Kind „Warum läufst du so komisch?“ Die Mutter murmelte erschrocken eine Entschuldigung und wollte das Kind wegziehen. Ich erklärte ihm, dass ich krank gewesen sei und mein Körper beim Laufen noch Schwierigkeiten habe. Mit dieser Erklärung war das Kind zufrieden. Es nickte und ging mit seiner schamroten Mutter davon.

Das Kind hatte unwissentlich ein Tabu gebrochen: Es hatte nicht nur geschaut, sondern sogar gefragt. Die Mutter wollte höflich sein und war durch das Verhalten ihres Kindes beschämt. Vermutlich bereitete ihr das unerlaubte Eindringen in den Privatbereich eines anderen Menschen Unbehagen. Das kann ich nachvollziehen, denn mir wäre es genauso gegangen. Trotzdem fand ich diese spontane Frage in ihrer Unmittelbarkeit eher sympathisch. Denn im Gegensatz zu der oben erwähnten Bemerkung der Verkäuferin hatte das Kind völlig frei von irgendeiner Wertung gefragt. In seiner Frage schwang keine Unterstellung, Ablehnung oder Vermutung mit, sondern kindliche Verwunderung darüber, dass ich anders laufe. Seine Freiheit von irgendwelchen Annahmen gab mir wiederum die Freiheit, so zu antworten, wie es für mich stimmte, und mich nicht rechtfertigen oder gar verteidigen zu müssen – und ohne beschämt (worden) zu sein.“ (Auszug aus Petrow & Passie „Wenn Krankheit das Leben verändert“)

In diesem Falle hatte sich eine Mutter für das Verhalten ihres Kindes gegenüber einem Menschen mit sichtbaren Beeinträchtigungen geschämt, aber mitunter kann man auch beobachten, dass es Angehörigen oder Freunden sichtbar unangenehm ist, wenn durch krankheitsbedingt langsames Gehen andere Menschen warten müssen oder beim Essen Speichel über das Kinn läuft.

 

Wie kann man Schamgefühlen begegnen?

Wie oben erwähnt, resultieren Schamgefühle aus einem (drohenden) Selbstwertverlust bzw. einer Selbstwertverletzung. Ich konnte umso besser mit ihnen umgehen, je stärker ich mich selbst mit meinen Einschränkungen und in meiner neuen Lebenssituation annehmen konnte und mich auf neue Weise als wertvoll empfand.

Es war nicht leicht, mein Selbstwertgefühl wieder zu stabilisieren, fehlten mir doch plötzlich jene Fähigkeiten und Tätigkeiten, die ich zuvor mit meinem Wert verbunden hatte wie z.B. meine ärztliche Berufstätigkeit. Bis zu meiner Erkrankung hatte ich Leistungsfähigkeit, Flexibilität, Schönheit und Erfolg idealisiert und damit meinen eigenen Wert eher am Tun und weniger am Sein festgemacht. Ich hatte mich dabei auf das in unserer Gesellschaft verankerte Menschenbild bezogen, das es einem bei Krankheit verdammt schwer machen kann, „sich selbst als Fragment und doch als Nicht-Verurteilter wahrzunehmen“ (Fulbert Steffensky).

Geholfen hat mir die kritische Reflexion dessen, woran ich bislang den Wert eines Menschen für die Gesellschaft festgemacht hatte, das Erschrecken und die Scham darüber auszuhalten, ebenso die Reue und mich schließlich um eine neue Haltung mir selbst und anderen Menschen gegenüber zu bemühen. 

Schamgefühle werden umso weniger, je mehr ich „Ja!“ zu mir sagen kann mit allem, was ich bin. Schamgefühle können auch weniger werden, wenn ich mich einmische, wenn ein anderer Mensch beschämt wird (hoffentlich bei dem anderen, aber auch bei mir, weil es mich beschämen kann, mich nicht eingemischt zu haben). Um meinerseits andere Menschen nicht zu beschämen, braucht es viel Achtsamkeit für meinen Umgang mit ihnen, insbesondere für meine Sprache. Ich kann sicher nicht völlig verhindern, dass sich andere Menschen von mir beschämt fühlen, aber ich kann mein Möglichstes dafür tun, dass es hoffentlich nicht geschieht.

 

Eine Bitte an begleitende Menschen

Wenn ich Therapeuten oder Ärzten gegenüber äußerte, dass es mir zum Beispiel sehr unangenehm sei, so schlecht zu sprechen, hörte ich überraschend häufig den Satz „Dafür brauchen Sie sich doch nicht zu schämen!“, den es in der Du-Form ebenso im Privaten gab. Mir brachte er keinerlei emotionale Entlastung, im Gegenteil, ich schämte mich zusätzlich dafür, dass ich mich geschämt hatte, und noch nicht souveräner mit meinen gesundheitlichen Einschränkungen umgehen konnte. Mir war durchaus klar, dass ich es nicht bräuchte, aber die Schamgefühle waren trotzdem da und brannten. (Ich vermute, dass kein Mensch aufhört, Schamgefühle zu empfinden, bloß weil ihm ein anderer sagt, er bräuchte das nicht.) Dieser entlastend gemeinte Satz ließ mich verstummen, denn nichts in der Welt hätte mich dazu gebracht, nochmals darüber zu reden, wenn ich es doch nicht „bräuchte“. Hilfreicher fand ich Formulierungen wie „Ich kann nachvollziehen, dass Ihnen das gerade unangenehm ist. Wie kann ich Ihnen die Situation etwas leichter machen?“ oder „An deiner Stelle würde ich vermutlich genauso empfinden. Was können wir ändern, damit es für dich angenehmer ist?“ – Vielleicht neigen wir dazu, Schamgefühle schnell beseitigen zu wollen, weil sie immer mit der Möglichkeit konfrontieren, dass wir sie unabsichtlich ausgelöst haben könnten, was wir als unangenehm empfinden würden. Deshalb wäre es auch für uns gut, wenn sie nicht da wären. Aber sie sind eben oft da. Deshalb möchte ich begleitenden Menschen ans Herz legen, behutsam mit ihren Worten und achtsam in ihrem Handeln zu sein.