MYSTISCHE ERFAHRUNGEN UND KRANKHEIT
Obwohl es ein unbekannteres Thema ist, gibt es gar nicht wenige Menschen, die im Zusammenhang mit Krankheit mystische oder tiefe spirituelle Erfahrungen machen. Es sind Momente, die von Heiligkeit erfüllt sind, oft von größter Geborgenheit in einer überirdisch anmutenden Kraft, von der Transzendenz von Zeit und Raum, um nur einige Kriterien zu nennen. Diejenigen, die eine solche Erfahrung machen durften, berichten von einem meist positiv veränderten Zugang zur Welt und zu ihrem Krank-Sein, von innerem Frieden und dem Gefühl, dass trotz lebensbedrohlicher Krankheit alles gut sei und/oder werden würde.
Was ist eine mystische Erfahrung?
Was als mystische Erfahrung gilt, ist je nach Perspektive, kulturell-religiösem sowie zeitgeschichtlichem Hintergrund etwas unterschiedlich. Die Definitionen von spirituellen und mystischen Erfahrungen überschneiden sich zudem und sind häufig auch unscharf. Entsprechend werden die Begriffe „mystisch“ und „spirituell“ nicht selten synonym gebraucht. Hier ist nicht der Ort für eine Begriffsbestimmung. Ich möchte zum besseren Verständnis dennoch einige Worte des Jesuitenpaters August Poulain SJ, der spanischen Mystikerin Teresa von Avilá und des Philosophen Walter T. Stace voranstellen.
Poulain (1925: 5) schreibt: „Mystisch nennt man die übernatürlichen Zustände, welche eine derartige Erkenntnis in sich schließen, dass wir mit all unseren Mühen und Anstrengungen nie dazu gelangen können“. Als Kriterium, ob diese „Erkenntnis“ von Gott komme oder der eigenen Phantasie entspringt, ob sie also echt oder nur eingebildet ist, galten im christlichen Mittelalter die Folgewirkungen einer solchen Erfahrung wie zunehmende Demut, Läuterung und Selbsterkenntnis. So schreibt die spanische Mystikerin Teresa von Avilá in ihrem „Buch des Lebens“ zu den Folgewirkungen, „dass wir sehr demütig und zurückhaltend werden“ (V 29,3). Und weiter „Es scheint, als läutere sie [die mystisch-ekstatische Erfahrung] die Seele in hohem Maße“ (V 38,18). Wichtig ist für Teresa auch die aus diesen Erfahrungen resultierende fortgesetzte Selbsterkenntnis, wie sie in ihren „Wohnungen der inneren Burg“ schreibt, da „… es unseren Herrn beglückt, dass wir uns selbst erkennen“ (6M 5,6).
Der Philosoph Walter T. Stace (1987) fasste die Merkmale mystischer Erfahrungen etwas neutraler, das heißt ohne Bezug auf religiösen Glauben. Zu den Merkmalen nach Stace gehören ein
- Zustand der Ergriffenheit oder Versunkenheit
- das Erleben einer Transzendenz von Raum und Zeit, das heißt die Aufhebung des Gefühls für Raum und Zeit
- das Erleben einer Ich-Auflösung und damit verbunden eines Einheitserlebens, also eine Transzendenz der Subjekt-Objekt-Relation
- ein häufiges Auftreten eines Empfindens von Glückseligkeit und/oder allumfassender Liebe
- das Gefühl, dass diese Erfahrung die eigentlich objektive Empfindung von Wirklichkeit ist; eine Gewissheit der erweiterten, „wirklicheren“ Wahrnehmung und deren subjektive, unmittelbar erfahrene Evidenz
- die Unbeschreibbarkeit und Unaussprechlichkeit der Erfahrung
- der Versuch, die Erfahrung in Paradoxien auszudrücken wie zum Beispiel „Ich und Nicht-Ich zugleich“
- das Gefühl der Heiligkeit mit Ehrfurcht und Staunen.
Wie gesagt, es gibt sehr verschiedene Definitionen, aber das Phänomen an sich scheint weltweit und zeit- und kulturübergreifend ähnlich zu sein, wie der Orientalist Gelpke festhält: „Vergleicht man die Berichte von Mystikern aus den verschiedenen Jahrhunderten und Kulturen miteinander, so wird man feststellen, dass sie bei formaler Unterschiedlichkeit inhaltlich übereinstimmen“ (Gelpke 1966: 202).
Krankheit und mystische Erfahrungen
Bei schwerer Krankheit und der aus ihr nicht selten resultierenden Not werden mystische Erfahrungen oft als zutiefst emotional heilend und beruhigend empfunden. Sie wurden unter anderem folgendermaßen beschrieben: „… ‚Da ist ein großes Sein. Es gibt keine Wünsche mehr.‘ Eine andere [Patientin] umschrieb: ‚Ich bin so voll, dass ich ganz leer bin. Ich weiß nicht mehr, ob mein Zentrum in mir drin oder außerhalb ist, ob es mein Herz ist, das schlägt oder die Erde.‘ (zit. in Renz 2003: 33f.) “Ich war noch nie so sehr mich (sic) selbst, obschon ich krank bin. – Ich bin neu lebendig, wie neu geboren, ich riskiere alles. – Ich liebe den Baum draußen, ich liebe meinen Mann, wie ich nie geliebt habe“. (zit. in Renz 2003: 51) „Es ging wirklich ums Überleben. Und dann sah ich ein ganz helles Licht und hörte einen Ton – also eine ganz leichte Melodie, die kam. Ich wusste nicht – also ich weiß es jetzt noch nicht – was das für eine Musik war, aber es war in dem Raum ja still – wo etwas passierte. Ich weiß wirklich nicht, was passierte. Aber für mich kam da die Entscheidung [zu leben]…. Die Entscheidung, die habe nicht ich gefällt. Das ist einfach gekommen.“ (Scagnetti-Feurer 2009: 405f.)
Mystische Erfahrungen geschehen, sie können nicht willentlich gemacht werden. Nicht selten gehen ihnen Momente höchster Not voraus. Die Psychoonkologin Monika Renz (2003: 38f.) schreibt „Bevor nämlich Zustände jenseits aller Angst erfahren werden, sind Ängste gerade entfesselt und haben apokalyptische Dimensionen. (…) Ähnlich sind Schmerzen nie so total und unüberwindbar wie in den Zuständen „davor“, vor einer inneren Bewusstseinsschwelle hin zu einem ewig Anderen. Im Davor, wo das Ich noch immer nicht losgelassen hat, wird Ohnmacht total erlebt. Schmerzen sind himmelschreiend, Unbeweglichkeit und Angst zum Wahnsinnig-Werden. Beruhigungs- und Schmerzmittel greifen gerade jetzt nur wenig. Und in all dem sind Patienten mutterseelenallein, weil niemand ihr Ausmaß an Leiden versteht (…).“
Mir selbst ist eine solche Erfahrung zuteil geworden, als ich bei einem Arztbesuch mit dem Verdacht einer weiteren schweren Erkrankung konfrontiert wurde und auf dem Heimweg emotional wie im freien Fall war. Obwohl ich nicht religiös war, wusste ich in und nach dieser Erfahrungen unmittelbar und mit absoluter Gewissheit, dass Gott mich gefunden hat. Und dass ich geborgen bin, wie ich noch nie zuvor geborgen war. Ich hatte das Gefühl, mich auf eine gute Weise dieser umfassenden, liebevoll-bergende Kraft ergeben zu können. Egal, wie die anstehende Operation ausgehen würde, es würde gut werden, weil ich mich geborgen wusste. In einem an anderer stelle bereits publizierten Interview mit Prof. Torsten Passie gehe ich ausführlich darauf ein.
Jahre später habe ich von einer anderen Patientin eine ganz ähnliche Beschreibung gefunden: „It was so profound … I knew that here was something out there bigger than I am … something that put this whole universe together … I felt the profound feeling of not being alone in this universe, that somebody out there is holding me close to them, guiding me through … and I knew everything was going to be okay.“ (zit. in VanLerberghe 2009: 89)
Das Gefühl des Ausgeliefertseins an die Krankheit, an die Schmerzen, an die Einsamkeit steht im Gegensatz zum Sich-fallen-lassen-Können in die Geborgenheit des mystischen Erlebens: krankheitsbedingtes Ausgeliefert-Sein und Loslassen-Müssen als Gegenpol zum Loslassen-Können, Loslassen-Dürfen im mystischen Erleben. Möglicherweise liegt in der Aufhebung dieses Gegensatzes ein Schlüssel zum Verständnis der oft als heilsam empfundenen Wirkung einer mystischen Erfahrung bei Krankheit: Die subjektive Gewissheit des Geborgenseins in etwas unendlich Größerem übersteigt die Erfahrung der Hilflosigkeit und hebt diese auf. „So vermag eine spirituelle Erfahrung das namenlos Schreckliche wortlos zu entkräften und zu korrigieren.“ (Renz 2003: 45)
(Wie) darüber sprechen?
Ob man über diese nicht-alltäglichen Erfahrung sprechen und sie in einen bekannten Rahmen einordnen möchte, liegt ausschließlich im Ermessen desjenigen, der diese Erfahrung machen durfte. Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie sich in der Regel der sprachlichen Fassbarkeit entzieht, besteht häufig eine Angst, dass das als heilig Empfundene durch ein Gespräch beschmutzt oder dass durch rationalisierende Erklärungen der Erfahrung die heilsame und stärkende Kraft genommen werden könnte. Deshalb tut in der Begleitung von Menschen, die davon berichten wollen, vor allem eins not (auch wenn es in der heutigen Zeit nicht sonderlich populär ist): Demut. Nur dann kann sich diese Erfahrung in einem emotional heilsamen Sinne entfalten.
Der schwedische Religionspsychologe Mikael Lundmark (2010) berichtet von einer Patientin „Mrs. B.“, der während einer Strahlenbehandlung Jesus erschienen war und die diese Begegnung als zutiefst heilsam erlebt hatte. Am Ende seiner differenzierten religionspsychologischen Auseinandersetzung mit der von „Mrs. B“ berichteten Erfahrung ordnet Lundmark diese zwar als „Illusion“ ein, betont aber: „We can never answer the question whether Mrs. B actually met Jesus (…); personally I believe that during the radiotherapy session Mrs. B might have met Jesus. However, what is immensely more important than my or anyone else’s opinions or beliefs in that matter, is that Mrs. B believes she met Jesus. Yes, more than that: Mrs. B knowsshe met Jesus and thatmakes the whole difference.” (Lundmark 2010: 65)
Die verwendete Literatur finden Sie hier.