INNERES ERLEBEN


 

Bei schwerer Krankheit ist man – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – auf radikale Weise auf sich selbst konfrontiert. Der Körper erzwingt durch Schmerz, Juckreiz oder Lähmungen auf bislang unbekannte Weise Aufmerksamkeit. Man reagiert vielleicht dünnhäutiger als früher und stellt fest, dass Geduld nicht unbedingt zu den eigenen Stärken gehört. Viele Tätigkeiten fallen temporär oder endgültig weg, andere, wie Physiotherapie oder Konzentrationstraining, kommen hinzu. Auch soziale Rollen verändern sich, ebenso Freundschaften oder andere Beziehungen.

Wir müssen mit diesen Veränderungen nicht nur umgehen lernen, sie machen auch etwas mit uns, sie konfrontieren uns mit uns selbst. Im krankheitsbedingten Rückzug von früheren Aktivitäten und in der Stille des Krankenlagers werden innere Bewegungen wie Gefühle, Gedanken oder innere Stimmen oft sehr viel stärker als zuvor wahrgenommen, sie sind nicht mehr vom Getöse des Alltags überdeckt. Wir werden uns nicht nur bewusst, dass wir endlich sind, dass wir verletzlich sind, wir erleben es unmittelbar und Tag für Tag – und eben auch unsere damit verbundenen Gefühle und Gedanken.

Wie wir mit ihnen und uns umgehen wollen, ist eine persönliche Entscheidung und damit individuell. Dennoch gibt es Themen, mit denen viele Menschen bei und nach einer lebensverändernden Erkrankung konfrontiert sind wie zum Beispiel der Umgang mit dem Verlust von Fähigkeiten und Möglichkeiten und dem daraus nicht selten resultierenden Gefühl der Scham oder einer großen Verunsicherung. Manchmal treten auch Schuldgefühle auf: Hätte man irgendetwas anders machen können und wäre dann nicht krank geworden?

Unter der Rubrik „Inneres Erleben“ sollen ein paar Aspekte skizzierend vorgestellt werden, die bei vielen Patienten eine Rolle spielen. Aber auch hier gilt: Die Art und Weise, wie sie es tun, ihr Ausmaß und ihre konkrete Ausgestaltung sind ebenso vielfältig wie die Menschen selbst. Deshalb kann und will ich keinen Weg vorzeichnen, sondern lediglich ein paar Anregungen geben, wie man sich selbst bei diesen Themen begegnen könnte, um mit ihnen einen Umgang zu finden.