NEUEN SINN FINDEN


 

Es geschieht leider nicht selten, dass durch eine schwere Erkrankung oder einen Unfall Tätigkeiten unmöglich geworden sind, die wir als erfüllend und bereichernd erlebt haben, sei es eine Berufstätigkeit, eine Mitwirkung im Verein oder ein besonderes Hobby. „Ich arbeite nicht mehr, die Kinder sind aus dem Haus, die Frau kommt erst abends aus dem Geschäft – das Leben ist so sinnlos geworden!“ sagte mir vor Monaten ein Nachbar, der aufgrund einer Schulterverletzung nicht mehr als Straßenbauer arbeiten kann und wegen seines Alters keine andere Arbeit findet.

Das Empfinden, das Leben sei sinnlos geworden, kann äußerst quälend sein. Auch ich erinnere mich gut an die schmerzhafte Leere, nachdem ich meine Berufsfähigkeit und andere Fähigkeiten verloren hatte und noch nichts Neues entstanden war. Doch meine verzweifelte Frage „Was ist denn jetzt der Sinn meines Lebens?“ blieb unbeantwortet – wer hätte auch antworten sollen? Das Leben? Das Universum? Andere Menschen? Und obwohl sie mich quälte, schien mir die Frage nach dem „Sinn meines Lebens“ auch zu groß und abstrakt, um sie greifen zu können.

 

Logotherapie und Existenzanalyse

Hilfe fand ich in der Logotherapie und Existenzanalyse. Für ihren Begründer, den Wiener Arzt Viktor Frankl, war der „Wille zum Sinn“, der jedem Menschen innewohne, die primär treibende innere Kraft. Jeder Mensch strebe nach einem sinnerfüllten Leben. Doch Frankl drehte die Frage um: Nicht wir fragen das Leben, was sein Sinn sein könnte, sondern das Leben fragt uns und wir sind aufgefordert, unsere ganz persönliche Antwort zu geben. Er schrieb „Leben selbst heißt nichts anderes als Befragt-Sein, all unser Sein ist nichts weiter als ein Antworten – ein Ver-Antworten des Lebens.“ (Frankl 1981, S. 88)

Für Frankl ergab sich Sinn aus der Verwirklichung von Werten in einer konkreten Situation. Werte waren für ihn innere Beweggründe, etwas zu tun und damit „Sinnmöglichkeiten“. Er unterschied dabei drei „Hauptstraßen zum Sinn“: 1. die Erlebniswerte (ich erlebe etwas, das ich als gut und erfüllend wahrnehme), 2. die schöpferischen Wert (ich erschaffe etwas oder bringe etwas durch mein Zutun in die Welt) und 3. die Einstellungswerte (ich nehme bewusst eine bestimmte Haltung ein zu Dingen, die ich nicht ändern kann). 

In den meisten Situationen gibt es verschiedene Werte gleichzeitig, die man verwirklichen könnte. Zum Beispiel können an einem Sonntag die Werte „einen Ausflug machen“, „Faulenzen“, „einen Vortrag vorbereiten“ und „Wohnung für einen Kindergeburtstag schmücken“ gleichzeitig da sein. Um tatsächlich handeln zu können, muss ich sie in eine Rangordnung bringen und denjenigen auswählen, der für mich an diesem konkreten Tag den höchsten Wert darstellt. Alfried Längle, der die Existenzanalyse in wesentlichen Punkten weiterentwickelt hat (einen Übersichtsartikel von ihm finden Sie hier), spezifizierte deshalb den Sinn der Situation als „die wertvollste Möglichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit“. Diese Perspektive verweist nicht nur auf die Hierarchie der Werte in der konkreten Situation, sondern auch darauf, dass Werte nicht frei schwebend verwirklicht werden können, sondern immer an die Wirklichkeit, das heißt an Fähigkeiten und Bedingungen gebunden sind.

Um es zusammenzufassen: Situationen, in denen wir Werte verwirklichen, das heißt in denen wir etwas ins Leben holen, das uns innerlich bewegt und wichtig ist und das uns etwas angeht, erleben wir als sinnvoll und erfüllend, als gut und uns stärkend.

 

(Wieder) Sinn finden bei Krankheit

Wir geben also Antworten auf die Fragen des Lebens an uns. Das kann ich auch bei schwerer Krankheit. Jede Entscheidung oder Wahl, die ich treffe, heißt Antwort geben. Und je mehr ich meine Antworten mit dem abstimme, was mir wichtig ist und dem ich innerlich zustimme, umso mehr erfüllende und für mich sinnvolle Momente werde ich erleben. Das kann bei Krankheit bedeuten, sich bewusst Räume für das geliebte Hobby zu schaffen, aber ebenso, die Medikamente regelmäßig einzunehmen oder für eine ausgewogene Ernährung zu sorgen. Es ist je nach Situation äußerst vielfältig, was meine Antwort auf die vielen Möglichkeiten, mit ihr umzugehen und sie zu gestalten, sein soll. Denn ich kann auf die Fragen des Lebens nicht nicht-antworten – auch sich treiben zu lassen oder sich ausschließlich an Konventionen zu orientieren ist eine Antwort. Ob sich diese Art des Antwortens gut und sinnvoll anfühlt, ist davon abhängig, ob ich mich dafür entschieden habe oder es eher einem „weil man das so macht“ geschuldet ist. Sinn braucht die Entscheidung für etwas, braucht mein selbst entschiedenes Handeln.

In schwersten Krankheitszuständen scheint die Möglichkeit einer sinnvollen Tätigkeit zunehmend wegzubrechen. Zwar berichten viele schwerkranke Menschen davon, dass sie nun die kleinen Dinge sehr viel bewusster erleben und sich an ihnen erfreuen würden. Gleichzeitig hadern sie oft damit, keine Möglichkeit mehr zu haben, anderen Menschen Gutes tun zu können, während sie so viel umsorgt würden. In dieser Weise äußerte sich mir gegenüber schwer an Krebs erkrankte Frau, mit der ich über zwei Jahre viele Gespräche geführt hatte. Im Umgang mit ihrer Situation bewies sie eine Zähigkeit und einen Lebensmut, der nicht nur mich immer wieder tief berührte. Als sie wieder einmal darüber klagte, dass sie noch nicht einmal mehr ihr Zimmer aufräumen könne und nichts Gutes mehr zustände brächte, sagte ich ihr, stimmt, dein Zimmer sieht ganz schön chaotisch aus. Aber weißt du was? Ein Zimmer aufräumen kann im Grunde jeder. Das, was du uns hier vorlebst, deine Lebensfreude, deine regelrechte Dreistigkeit gegenüber dem Krebs, das kannst nur du. Du zeigst allen Menschen um dich herum, wie man trotz und mit einer schweren Krankheit leben und Spaß haben kann und wir lernen verdammt viel von dir. Sie entgegnete, sie könne es nur auf ihre Weise machen, aber ihr sei nie der Gedanke gekommen, dass andere Menschen davon lernen könnten. Wenn das so sei, sei es umso besser. – Noch mehrere Wochen kam sie immer wieder auf dieses Gespräch zurück. Sie sei tief bewegt davon, dass ihr persönlicher Umgang mit dem Krebs auch für andere wertvoll geworden war und sie dadurch anderen Menschen etwas geben konnte. Plötzlich spüre sie wieder einen Sinn in ihrem Leben.

 

Der Unterschied zwischen „Warum?“ und Wofür?“

Nach Frankl verweist die Frage „Warum mache ich das?“ auf eine Kausalität, jene Frage „Wofür mache ich das?“ aber auf einen Wert, auf den mein Handeln ausgerichtet ist. Was ist so wertvoll, was fühlt sich so wichtig für mich an, dass ich es innerlich bewegt und ins Handeln bringt?

Diese Unterscheidung hat sich im Alltag für mich als hilfreich erwiesen. Wenn ich ein „Wofür?“ spüre, kann ich auch bei schwierigen oder lästigen Aufgaben leichter dabei bleiben. Wenn ich mich zum Beispiel frage „Warum muss ich schon wieder Staub wischen?“, dann lautet die Antwort „Weil die Luft im Stadtzentrum so schmutzig ist“. Wenn die Frage dagegen lautet „Wofür wische ich schon wieder Staub?“, fühlt sich die Antwort ganz anders an: Damit es mir gut geht und ich mich in meiner Wohnung wohlfühle.

 

Helfende Fragen

Um für sich selbst zu klären, worin eine als sinnvoll empfundene Tagesgestaltung bestehen könnte, können diese Fragen eine kleine Hilfestellung geben:

  • Was wärmt mich innerlich?
  • Was zieht mich innerlich an, was macht mir Freude?
  • Bei welchen Tätigkeiten oder Erlebnissen habe ich das Gefühl, geht mir das Herz auf?
  • Wobei wünsche ich mir, es möge nie aufhören, weil es so schön ist?
  • Wofür stehe ich morgens gern auf?
  • Welche guten Dinge gibt es in meinem Leben?

 

Danach schließen sich folgende Fragen an:

  • Wie kann ich dem, was mir Freude bereitet, (wieder) mehr Raum geben?
  • Was brauche ich dafür? Welche Unterstützung kann ich wo bekommen?
  • Wenn durch die Krankheit Sinnmöglichkeiten verloren gegangen sind: Welche Möglichkeiten gibt es, das, was zuvor als sinnvoll und erfüllend erlebt wurde, auf andere Weise zu realisieren?

 

Wenn das Gefühl da ist, überhaupt keine Idee zu haben, was sinnvoll oder gut sein könnte oder es zwar zu wissen, aber nicht zu spüren (bei Depressionen ist dies oft der Fall), dann kann professionelle Hilfe angezeigt sein. Denn den vielen Herausforderungen, denen sich Menschen mit und nach schwerer Krankheit stellen müssen, kann das Gefühl der Sinnlosigkeit ein weiteres und oft kaum erträgliches Gewicht hinzufügen. Mit professioneller Hilfe kann dann bei und trotz Krankheit gelingen, was Alfried Längle auf eine griffige Formel gebracht hat: „aus Mist Dünger werden lassen“.

 

Frankl VE (1981): Die Sinnfrage in der Psychotherapie. München: Piper