KRANKHEIT ALS GRENZERFAHRUNG

Ein Essay

 


 

Einleitung

Die Erfahrung, krank zu sein, haben wir alle schon einmal gemacht. Auch die Grenzen, die Unwohlsein, Schmerzen oder Fieber setzen können, haben wir alle schon gespürt. In diesem Essay soll es um Krankheiten gehen, die nicht nach ein oder zwei Wochen vergessen sind, sondern sich in existenzieller Weise auf unser Leben auswirken. Diese Krankheiten sind Grenzerfahrungen – Erfahrungen an den Grenzen dessen, was uns bislang vertraut war, was unseren Alltag bestimmt hat, unser Sein, unser Wirken. Es sind Erfahrungen, die ungefragt in unser Leben einbrechen, es auf den Kopf stellen und manchmal in seiner bisherigen Form auch vernichten. Manche Grenzen werden uns durch die Krankheit gesetzt, und wir können sie – bisweilen temporär, bisweilen endgültig – nicht überschreiten. Andere Grenzen, die scheinbar fest waren, werden erweitert und stellen uns vor die Wahl, den sich öffnenden Raum zu erkunden oder zurückzuweisen. Und manche Aspekte von Krankheit begrenzen und erweitern gleichzeitig unsere inneren und äußeren Erfahrungsräume. Auch wenn diese Art der Grenzerfahrung in der Regel nicht bewusst gewählt oder gar gesucht wird, gibt es eine ganze Reihe von Antwortmöglichkeiten darauf, die von tiefer Verzweiflung und Resignation über pragmatisches „Zur-Kenntnis-Nehmen“ bis zum trotzigen „Dennoch!“ und dem Ausloten der in dieser Grenzerfahrung vielleicht enthaltenen Schätze reicht. Der Begründer der Logotherapie Viktor Frankl hat sinngemäß gesagt, wir können nicht beeinflussen, was das Leben uns bringt, aber wir haben immer die Möglichkeit zu entscheiden, wie wir darauf reagieren. Ich bin nicht sicher, ob das „immer“ in diesem Satz stimmt. Es gibt Krankheiten, die den betroffenen Menschen so stark an seiner Teilhabe am Leben hindern, dass eine Freiheit in der Entscheidung kaum vorstellbar ist. Doch wenn man in der Lage ist, sich dieser Grenzerfahrung bewusst zu stellen, die eigenen Grenzen und deren Verschiebungen wahrzunehmen, Tiefen auszuloten und bisheriges zu transformieren, können sich äußere Grenzen in innere Freiheiten wandeln.

Die Überlegungen dieses Beitrags basieren auf meinen persönlichen Erfahrungen mit einer schweren, den Lebensentwurf torpedierenden Erkrankung vor zwölf Jahren. Nur kurz selbst als Ärztin tätig zu sein und dann die Seiten zu wechseln und Aspekte von Krankheit und Leiden kennenzulernen, die im Studium nicht thematisiert wurden und die mein Leben von Grund auf veränderten, war schmerzhaft – und überaus lehrreich. Der französische Autor André Gide formulierte es so: „Ich glaube, dass Krankheiten Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen können. Ich glaube, es gibt gewisse Tore, die nur die Krankheit öffnen kann. Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand, der uns nicht erlaubt, alles zu verstehen. Vielleicht verschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten; ebenso aber verschließt uns die Gesundheit andere oder führt uns doch davon weg, so dass wir uns nicht mehr darum kümmern.“ (Gide 1961: 312)

Das vollständige Essay finden Sie hier.