KRANKHEIT ALS CHANCE?
Schwere Krankheiten oder Unfälle nehmen oder verringern Chancen, die bisherigen Lebensentwürfe zu entfalten. Manchmal zerstören sie sie gleich ganz. Gleichwohl gibt es die Annahme, dass in der Krankheit oder dem unfallbedingten versehrten Zustand selbst eine Chance liege. In Büchern zu diesem Konzept wird oft suggeriert, dass man nur die in der Krankheit liegende „Lernaufgabe“ bewältigen oder die „Botschaft der Krankheit“ entschlüsseln müsse, dann würde man gesund. Zudem wird nicht selten unterstellt, man sei krank geworden, weil man eine Lebensaufgabe noch nicht bewältigt oder ein Lebensthema noch nicht zugelassen oder beruhigt habe. Offen gestanden habe ich mit diesem Konzept einige Probleme. Natürlich kann eine Krankheit den Anstoß geben, über bestimmt Dinge – vielleicht erstmals – nachzudenken und sie zu verändern. Aber ist Krankheit deshalb per se eine Chance, also eine günstige Gelegenheit oder gar ein Glücksfall?
Dazu ein Auszug aus dem Buch „Wenn Krankheit das Leben verändert“ (Psychosozial-Verlag 2019)
„’Sieh doch deine Krankheit als Chance!’ – Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz gehört habe. Besonders in Phasen der Trauer sollte er meine Aufmerksamkeit auf das Potential des Krankheitsgeschehens lenken. Anfangs löste er jedoch Druck und Schuldgefühle, später vor allem Abwehr aus. Diese bezog und bezieht sich bis heute in erster Linie auf die mitschwingende Erwartung, in der Krankheit eine Chance sehen zu müssen. Gewiss mag es Konstellationen geben, in denen eine Krankheit zum Beispiel den letzten Impuls für eine schon lange überlegte Kündigung oder Trennung vom Partner gibt. In der Regel zielt die Aufforderung jedoch auf von außen als wichtig erachtete Lebensveränderungen, die konkrete Dinge wie eine Kündigung ebenso betreffen können wie die – reale oder vermeintliche – Notwendigkeit, sich seelischen Nöten zuzuwenden und sie zu beruhigen. Letzteres wird nicht selten mit der Vermutung verbunden, ungelöste Probleme seien die Ursache der Erkrankung.
Bei psychosomatischen Erkrankungen liegt in der tiefgehenden Innenarbeit häufig eine Genesungschance. Zudem weisen Erkenntnisse aus der Psychoneuroimmunologie auf den engen Zusammenhang zwischen Psyche und Immunsystem und damit auf die Bedeutung von seelischen Prozessen auf das Krankheits- und Heilungsgeschehen hin. Sie zeigen aber auch, dass die Verflechtung von Psyche, Hormon- und Immunsystem sehr komplex und individuell äußerst verschieden ist. Vor diesem Hintergrund scheint die pauschale Aufforderung, die – vielleicht – in der Krankheit liegende Chance sehen und nutzen zu sollen, eher unangemessen.
Das erste Mal forderte mich die Psychologin in der stationären Reha auf, meine Erkrankung als Chance zu sehen. Gesundheitlich ging es mir damals ziemlich schlecht. Das beständige Ausgleichen der Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen forderte ebenso Kraft wie die schlechte Konzentration und Aufmerksamkeit. Zusätzlich ängstigten mich diese Symptome. Ich konnte in meinem Zustand keine „Chance“ erkennen, sondern empfand diese Aufforderung als Überforderung, um nicht zu sagen als Zumutung. Es kam mir vor, als würde mich die Psychologin mit einem Fahrrad auf die Autobahn schicken. Etwa zeitgleich erklärte sie meinen Angehörigen, dass ich womöglich „für immer ein Pflegefall“ bleiben würde. Wir waren eher irritiert als schockiert, weil das selbst damals nicht der Fall war. Diese Einschätzung verwirrte mich nur noch mehr: Die Perspektive „Pflegefall“ könnte eine Chance sein? Ich konnte nichts damit anfangen und fühlte mich, statt ermutigt, unter Druck gesetzt, eine Chance sehen zu müssen. Später hatte ich Schuldgefühle, weil ich noch lange Zeit keine sah. Damals war mir nicht klar, dass es neben unserer belasteten Therapeutin-Patientin-Beziehung, die zeitweise eher einem Machtkampf ähnelte, eine bedeutende Rolle spielte, dass ich meine Erkrankung noch längst nicht als Tatsache akzeptiert hatte. Meine Annahme, ich würde bald wieder gesund und alles würde wie früher sein, verstellte mir den Weg zu diesem Konzept.
Erst nach ein zwei, drei Jahren näherte ich mich ihm. Hinter mir lagen etliche Monate des Rebellierens, des Leugnens, schließlich der Trauer und beginnenden Akzeptanz. Insbesondere die Akzeptanz schuf den Boden, um Aspekte des Krankheitsgeschehens als Chance anschauen zu können. Doch schon die Formulierung machte mir Schwierigkeiten: Das Wort „Chance“ schien mir zu groß, zu plakativ. Chancen sind Gegebenheiten oder Konstellationen, die für den Betreffenden zu etwas Gutem führen können, so dass es widersinnig wäre, sie nicht zu ergreifen. Gleichzeitig sind Chancen keine Garantien, man kann an ihnen auch scheitern. Im Kapitel 11 beschreibe ich ausführlicher, wie ich oft bereits an Alltagsanforderungen scheiterte. Würde ich die in der Krankheit liegende Chance womöglich auch vergeigen? Davor hatte ich Angst. Andererseits: Was war diese Chance überhaupt?
Zuerst sah ich das Konzept weiterhin im Kontext der Krankheitsentstehung: „Schau dir deine Probleme an und du wirst gesund werden. Darin liegt die Chance.“ Dieser Lesart begegnete ich noch immer mit Abwehr. Später fand ich in dem Buch „Mut und Gnade“ von Ken Wilber (1996) einen anderen Zugang: Schau dir die Probleme oder persönliche Schwierigkeiten nicht an, weil sie dich krank gemacht haben, sondern weil du sie sowieso lösen und dich ändern wolltest. Das fühlte sich besser an. Schließlich formulierte ich es in „Krankheit als Möglichkeit“ um. Den Begriff der Möglichkeit empfand ich als offener und mit weniger Anspruch und Implikationen verbunden. Eine „Möglichkeit“ nicht zu nutzen fühlte sich weniger unsinnig an als eine „Chance“ verstreichen zu lassen. Diese Umformulierung nahm mir den Druck, brachte mich aber nicht weiter. Die „Krankheit“ als Möglichkeit ließ sich für mich nicht greifen, sie blieb trotz der vielen Einschränkungen abstrakt. Ich fand noch immer keinen Zugang. Zumindest keinen bewussten. Unbewusst war ich längst mittendrin. Denn der tiefgreifende Prozess der Krankheitsverarbeitung hatte mich vollständig auf mich selbst zurückgeworfen. Ich kam nicht umhin, meine Werte, Einstellungen, Haltungen und Lebensweisen genau unter die Lupe zu nehmen, sie zu hinterfragen und mich durch diesen Prozess weiterzuentwickeln. Und so hatte ich die Möglichkeit zur Veränderung längst ergriffen bevor mir klar wurde, dass ich schon lange genau das tat, was ich als Konzept vehement abgelehnt hatte.
Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen scheinen mir in Bezug auf das Konzept „Krankheit als Chance“ drei Dinge wichtig. Erstens: Die Aufforderung von außen „Sieh doch deine Erkrankung als Chance!“ wird in den seltensten Fällen Früchte tragen. Und zwar nicht deshalb, weil der Kranke keine Chance sehen möchte, sondern weil die damit verbundene Erwartungshaltung oft als unangemessen und als Zumutung empfunden wird. Hilfreicher ist es, dem Kranken im Sinne einer Information, eines Angebots oder einer Anregung von Menschen zu berichten, die ihre Erkrankungen für sich als Chance nutzen konnten. Erfahrungsberichte gibt es genug. Indes dürfte es mindestens genauso viele Menschen geben, die dies nicht vermocht oder gewollt und mit Abwehr auf dieses Konzept reagiert haben. Dahinter einen fehlenden Genesungswunsch zu vermuten ist nach meinem Empfinden unangemessen. Möglicherweise passt dieser Zugang einfach nicht zu dem kranken Menschen, überfordert ihn oder bleibt ihm fremd.
Ich vermute zudem, dass es erheblich mehr kranke Menschen gibt, die aufgrund ihrer Erkrankung bewusst etwas in ihrem Leben verändern, ohne diese Veränderungen in den Kontext des Konzepts „Krankheit als Chance“ zu stellen. Ich persönlich konnte erst im Rückblick feststellen, dass ich die in der Krankheit liegenden Möglichkeiten für innere Veränderung nicht nur wahrgenommen, sondern sogar intensiv genutzt hatte, obwohl mir dieses Konzept bis heute Bauchweh bereitet.
Zweitens: Damit ein kranker Mensch mit der Idee der Krankheit als Chance oder Möglichkeit – vielleicht – etwas anfangen kann, ist die Beachtung des Zeitpunkts wichtig. Als ich von der Psychologin mit diesem Konzept konfrontiert wurde, war ich innerlich noch längst nicht bereit. Ich brauchte viele Monate, um die Wucht der Erkrankung und ihre zerstörerische Kraft zu begreifen. Ich brauchte Zeit zum Trauern, zum Hadern, zum emotionalen Verarbeiten. In dieser Zeit konnten derartige Appelle nicht fruchten, es standen zunächst andere Aufgaben an. Erst die beginnende Akzeptanz ermöglichte mir einen Zugang zu diesem Konzept.
Drittens: Bevor Außenstehende mit dieser Idee an den Kranken herantreten, sollten sie sich nach ihren Beweggründen und die Annahmen (hinter-)fragen, auf denen dieses Konzept basiert. Manche Erkrankungen sind so schwerwiegend, dass sie dem Betroffenen kaum Gestaltungsspielräume lassen. Hinzu kommt, dass angesichts schwerer Krankheit bei Begleitenden nicht selten und völlig verständlich der Gedanke aufblitzen dürfte „Ein Glück, dass ich das nicht habe!“. Wer gibt mir jedoch vor diesem Hintergrund das Recht, die Aufforderung zu erteilen, eine Chance in der Krankheit sehen zu sollen? Weil ich es gut meine? Begleitenden Angehörigen, Freunden und Therapeuten möchte ich deshalb ans Herz legen, bedachtsam mit diesem Konzept umzugehen.“ (Petrow & Passie 2019)
Obwohl ich mich also lange gegen das Konzept „Krankheit als Chance“ gesträubt hatte, veränderte ich über die Jahre vieles in meinem Leben. Manches zunächst mit Unbehagen, weil ich es aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen ändern musste, anderes freiwillig und trotzdem mit bewussten Übungsphasen und langen Umgewöhnungszeiten.
Es gibt individuell ganz unterschiedliche Bereiche, in denen Veränderungen möglich sind. Hier sind einige Beispiele für Fragen, die man sich selbst stellen kann, um Veränderungen zu wagen:
- Tagesablauf: Gibt es in meinem Leben eine gute Balance zwischen aktiven und ruhigen Phasen? Schlafe ich ausreichend? Bewege ich mich ausreichend? Was könnte ich verändern, damit mein Tagesablauf für mich angenehmer und zuträglicher wird?
- Ernährung: Ernähre ich mich so, wie ich es eigentlich möchte? Würde mir eine andere Ernährung besser tun? Was brauche ich dafür, dass ich meine Ernährung (langfristig) verändern kann?
- Sinn erleben: Gibt es trotz Krankheit weiterhin Erlebnisse oder Tätigkeiten in meinem Leben, die ich als wertvoll und gut empfinde, die mein Herz öffnen und meine Seele wärmen? Wie kann ich diesen Dingen mehr Raum geben? Welche Dinge würde ich gern tun? Welche Möglichkeiten gibt es, sie zu realisieren? Gibt es Tätigkeiten, denen ich durch die Erkrankung sogar mehr Raum geben kann und möchte als früher?
- Umgang mit sich selbst: Gehe ich mit mir selbst so um, dass es mir gut tut? Habe ich mir überhaupt schon einmal Gedanken darum gemacht, wie ich mit mir selbst umgehe? Gestehe ich mir zu, erschöpft, ungeduldig oder schwach zu sein? Oder muss ich mich immer zusammenreißen, „weil man das so macht“? Wie fühlt es sich an, wenn ich mir erlaube, schwach zu sein? Möchte ich durch die Krankheit lernen, sanfter und geduldiger (mit mir) zu sein?
- Umgang mit anderen Menschen: Verhalte ich mich so, wie ich es eigentlich möchte? Wie begegne ich jenen Menschen, die mich krankheitsbedingt oft in großem Maße unterstützen? Kann ich eigentlich um Hilfe bitten und was macht es womöglich schwer, diese anzunehmen? Kann ich für die Hilfe „danke“ sagen – und tue ich das auch? Bemühe ich mich trotz meiner eigenen Not weiterhin um Verständnis, Rücksichtnahme und Höflichkeit oder trete ich der Welt eher mit Forderungen und Vorwürfen gegenüber, weil ich ein besonders schweres Päckchen zu tragen habe?
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Für Veränderungen von Verhaltensweisen oder Gewohnheiten braucht man viel Ausdauer und Geduld. Ebenso Nachsicht und Sanftheit mit sich selbst, wenn es nicht gleich gelingt oder man sich dabei ertappt, immer wieder in die alten Verhaltensweisen zu verfallen. Hilfreich ist es, zunächst mit kleinen Veränderungen zu beginnen, die man täglich übt, und dann weitere kleine Veränderungen anstrebt, bis sie irgendwann zu größeren werden.
Krankheiten können ein Anlass zu bewussten und selbstgestalteten Veränderungen im eigenen Leben sein. Ob sie es werden, ist von vielfältigen Faktoren abhängig. Dass Krankheit grundsätzlich eine Chance impliziert, die der Kranke zu nutzen hätte, scheint mir dagegen eher anmaßend und lebensfern.